January 21, 2015

Dieter Glasmacher



Ausstellung
DIETER GLASMACHER - HOLE IN ONE

Galerie Herold, Hamburg, 17. Januar - 28. Februar 2015




Axel Feuß:
Ausstellungseröffnung


Sehr verehrte Freunde der Kunst,

ein Bild von und mit Dieter Glasmacher, das ich im Internet gefunden habe, hat mich fasziniert. Es zeigt den Künstler bei der Vernissage seiner Ausstellung „Seltsamer Kreislauf“ im Mainzer Kunstverein Eisenturm im Juni 2014. Mit ausgebreiteten Armen, so als wollte er fliegen und mit schmunzelndem Blick zur Seite, ob ihn auch jemand beobachtet, steht er vor einem wandfüllenden Gemälde mit dem Titel „Ich habe Deutschland gerettet“ von 1998 (das übrigens auch im Ausstellungskatalog der Galerie Herold von 2006 doppelseitig abgebildet ist - hat es seitdem keiner gekauft? Das würde mich nun wirklich wundern.)   
Dieter Glasmacher bei der Eröffnung der Ausstellung "Seltsamer Kreislauf" im Kunstverein Eisenturm, Mainz, Juni 2014 (Foto: valuetrendradar.com)

Dieses Bild - also das im Internet - sagt viel über die Gedankenwelt von Glasmacher aus. Ich sage bewusst unscharf „Bild“, denn seit einigen Jahren gehen wir im Internet und am Computer nur noch mit Bildern um, images oder pics genannt, Bildern von Kunstwerken und von Fotos, im Originalzustand, oder gephotoshopt, von unbekannten Personen aufgenommen, gescannt, als Repro abfotografiert, von Museumsseiten, Online-Zeitungen oder google-images heruntergeladen, mit oder ohne Selfie auf Facebook gepostet. Wissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass durch das Internet und um das Jahr 2000 ein Iconic turn stattgefunden habe, eine Wende vom Leitmedium Buch zum Leitmedium Bild. Neurowissenschaftler sind davon überzeugt, dass damit einhergehend eine Umstellung von der linken, sprachverarbeitenden auf die rechte, bildverarbeitende Gehirnhälfte stattgefunden habe. Wie dem auch immer sei: Die durch die Bilderflut vorhergesagte allgemeine Verwirrung der Menschen, die Prognose, wir würden echte und manipulierte Bilder nicht mehr voneinander unterscheiden können, ist ausgeblieben. Das menschliche Gehirn ist leistungsfähiger als gedacht, und wir haben vermutlich anhand der Bilderflut gelernt, Bilder, images und pics in die verschiedenen Ursprungskategorien einzuordnen.

Ein Bild wie das von und mit Dieter Glasmacher, der mit ausgebreiteten Armen vor seinem Gemälde steht, lässt sich auch heute noch mit den klassischen Mitteln der Ikonographie analysieren. Auf dem Gemälde ist unten rechts in großen Versalien zu lesen: „Ich habe Deutschland gerettet.“ Meint der Künstler sich selbst? Umfasst und segnet er auf dem Foto uns alle? Nein, keineswegs, denn dann wären seine Handflächen nach außen gekehrt. Dann würde er wie Christus der Erlöser auf uns herabblicken. So, wie er seine Hände hält, segelt er von Gedanke zu Gedanke, von Bildmotiv zu Bildmotiv, blickt schmunzelnd und mutig nach oben, als würde er wieder neuen Motiven und Einfällen entgegenfliegen. Schlagwortartige Zitate, comicartige Motive, Bildlehrtafeln, Pornobildchen, ein Dürerscher Hase, der aber nicht sitzt, sondern auf dem Sprung ist, eine schwarze Wandtafel mit anzüglichen Wortfetzen, eine Texttafel „No eating & drinking“, die bei Zuwiderhandlung eine Strafe von 500 Einheiten einer fremden Währung ankündigt - das alles verteilt sich ohne sichtbare Hierarchie auf der Bildfläche des Gemäldes. Zwischen diesen Motiven segelt nicht nur Glasmacher, es segelt auch der Betrachter auf der Suche nach neuen Seh- und Lese-Erlebnissen hin und her. „Gier frisst Gehirn“ ist dort ebenfalls zu lesen. „Ich habe Deutschland gerettet“ ist zwar der Titel des Gemäldes. Die übrigen Zitate fügen sich jedoch aus ganz anderen Zusammenhängen in die Leinwand und hätten ebenso gut zur Formulierung des Bildtitels dienen können. 

Woher stammen sie? Noch vor zehn Jahren hätte man natürlich am besten den Künstler befragt, wochenlang recherchiert oder Mutmaßungen angestellt. Heute liefert zumindest in einigen Fällen eine der Suchmaschinen im Internet die Lösung. „Ich habe Deutschland gerettet“ liefert dort kein brauchbares Ergebnis. Dazu ist das Zitat zu allgemein. Es könnte auf zahlreiche Politiker von Bismarck über Franz Josef Strauß bis Gerhard Schröder passen, von problematischeren Namen einmal abgesehen. „Gier frisst Gehirn“ diente in den vergangenen Jahren so zahlreichen Artikeln, Webseiten und sogar Büchern als Schlagzeile und Titel, dass sich auch dieser Ausdruck nicht bis ins Jahr 1998, die Entstehungszeit des Gemäldes, zurückverfolgen lässt. Die Schlagzeile „Zugebaute Scham“ im Zentrum des Ölbilds lässt sich hingegen eindeutig identifizieren. Sie diente Rudolf Augstein als Überschrift für einen kritischen Kommentar zum damals noch in Planung befindlichen „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin. Der Artikel erschien am 16.2.1998 in der Zeitschrift „Der Spiegel“. Die Schlagzeile „Verheimung aller Probleme“ am oberen Rand des Gemäldes erschien in derselben Ausgabe des „Spiegels“ als Überschrift eines Artikels zur Pflegeversicherung. Die Wörter „HELP“ und „CLEAN“, irgendwo eingestreut, sind so allgegenwärtig in unseren Wortschatz eingedrungen, dass sie nur noch dem an der Sprache Interessierten als fade Modewörter aufstoßen. Die Hinweistafel „NO EATING & DRINKING FINE 500“ dürfte Glasmacher während einer seiner zahlreichen Studien- und Ausstellungsreisen durch die ganze Welt aufgefallen sein. Sie ist in ähnlicher Form auch in Bangkok, Singapur oder Hongkong, also Gegenden, in denen ich mich gelegentlich herumtreibe, allgegenwärtig. Einen sinnvollen Zusammenhang haben diese auf einer Leinwand vereinten Slogans nicht, außer jenem, dass sie aus ihrem ursprünglichen Kontext isoliert umso sinnentleerter und grotesker erscheinen. Glasmacher stolpert über die sprachlichen Purzelbäume und leeren Worthülsen der Politiker und Journalisten, über die allgegenwärtigen Verordnungen und Modewörter, die durch ihre Vervielfältigung Sinn und Wirkung verlieren, und führt sie uns mit den Mitteln der Kunst neu vor Augen.

Dieter Glasmacher: Agrosol, 2005, Acryl auf Leinwand, 50 x 60 cm

Einmal auf die Fährte gesetzt, beginnt der Betrachter bald selbst, mit großem Vergnügen solchen Formulierungsmonstern und sinnentleerten Worthülsen nachzuforschen. Ein wunderbarer Anlass dafür wäre in der heutigen Ausstellung Glasmachers Bild „Agrosol“ von 2005 mit der Fußzeile „Dummi macht schlau“. „Agrosol“ riecht schon von weitem nach fragwürdigen Methoden in der Düngemittelbranche. Und tatsächlich liefert die Suchmaschine in Internet den ersten Kalauer: „Agrosol - Immer besser mit als ohne“. Die Webseite der Agrosol GmbH ist „nur für innovative Landwirte“. Sie verspricht „höhere Stressresistenz bei Trocken- und Nässestress“, Agrosol „schont die Umwelt - rein biologisch“. Treffender hätte Glasmacher Slogans nicht finden können. Wofür hält man uns - „Dummi macht schlau?“ Ach nein, das steht dort gar nicht. „Dummy macht schlau“ ist vielmehr die Überschrift eines Artikels in der Berliner Zeitung vom 13.12.2001, in dem über die Entwicklungskonzepte von Zeitschriften-Erfindern berichtet wird, die mit Hilfe von Dummys Ideen für neue Journale erproben. Glasmacher hat - zumindest mich - vorübergehend auf die falsche Fährte gelockt und suggeriert, dass „Agrosol“ und „Dummy macht schlau“ etwas miteinander zu tun hätten. Oft genug sitzt dem Künstler der Schalk im Nacken, wenn er Worthülsen und germanistische Pirouetten aus verschiedenen Zusammenhängen präsentiert, die die ernsthafte Mühe der Autoren zur Realsatire werden lassen.

Aber ich bin durch die von Glasmacher provozierte Aktivierung der linken, sprachverarbeitenden Gehirnhälfte von meinem Thema der allgegenwärtigen Bilder, images und pics in der elektronischen Welt und von der angeblich neuen Dominanz der rechten, bildverarbeitenden Gehirnhälfte abgekommen. Die Tatsache, dass wir sehr wohl in der Lage sind, Bilder nach ihrem Ursprung zu kategorisieren, hängt nämlich damit zusammen, dass wir dies auch vor der Elektronisierung und schon seit Jahrtausenden anhand von populärem Bildmaterial gelernt haben. Kritzeleien und anzügliche Zeichnungen auf Aborten sind bereits aus der Antike bekannt, Verhöhnungen von Herrschern und Klerikern aus den Flugblättern der Bauernkriege, Karikaturen auf Adlige und Politiker seit der französischen Revolution, Postkarten mit leicht bekleideten Damen seit der Zeit um 1900. Fotos von Schlachten des Ersten und von Sieg-Ereignissen des Zweiten Weltkriegs haben sich bald als nachgestellt erwiesen. Niemals wären diese populären Bildmotive auf Dauer mit echtem, dokumentarischem Material verwechselt worden. Warum also sollte uns das heute bei elektronischem Bildmaterial passieren? 

Auf dem Gebiet der bildenden Kunst eigneten sich erstmals die Dadaisten populäres Bildmaterial, Überschriften und Wortfetzen aus Zeitschriften und allen nur denkbaren Druckwerken an. Mit der neu gefundenen Technik der Collage schufen sie Bildkompositionen, deren Bestandteile zwar noch identifizierbar blieben, aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen isoliert jedoch neue, teils absurde, teil gesellschaftskritische Inhalte ergaben. Ebenso legendär sind die sprachanalytischen Experimente der Dadaisten, die mit den Lautgedichten von Hugo Ball im Züricher Cabaret Voltaire 1916 begannen und mit den germanistischen Pirouetten von Kurt Schwitters in seinem Gedicht „An Anna Blume“ 1919 und der anschließend von ihm verfassten „leicht fasslichen Methode zur Erlernung des Wahnsinns für jedermann“ 1922 einen weiteren Höhepunkt erreichten. Der berühmte Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg führte wenig später zwischen 1923 und 1929 die Beschäftigung mit populären Bildwelten in die Kunstwissenschaft ein, als er Bildformeln aus der Hochkunst seit der Antike und der Renaissance modernen Werbeplakaten, Briefmarken und Pressefotos in einem assoziativ sortierten und unkommentierten Bildatlas gegenüberstellte. 

Dieter Glasmacher: Tres Estrellas, 1994, Acryl auf Papier, 48 x 69 cm

Glasmachers Arbeiten lassen Bezüge zu beidem erkennen, jedoch nicht, weil er sich bewusst darauf bezöge (schließlich datieren Dada und Warburgs Studien neunzig bis einhundert Jahre zurück), sondern weil sie den Beginn der Beschäftigung mit populären Bildwelten im Zwanzigsten Jahrhundert markieren. Glasmacher arbeitet in seinen Gemälden collageartig. Die Textfragmente und Einzelbilder entstammen Publikumsmagazinen, Werbeprospekten, vielleicht einem auf dem Land verwendeten Düngemittelbeutel der Marke „Agrosol“, Zeichnungen an Hauswänden und Kritzeleien an Toilettentüren, Figuren und Szenen aus Comics, Markennamen wie „Tres Estrellas“ mit den drei Sternen, der etwa in Mexiko für eine Kekssorte, Feueranzünder, Buslinien, Campinganlagen und Hotels herhalten muss, umfassen Volkskunstmotive von Glasmachers Studien- und Ausstellungsreisen nach Afrika, Südamerika und in Europa, vereinnahmen Kritzeleien an allen nur denkbaren Orten, die für den Künstler vor allem dann interessant werden, wenn sie zum zweiten Mal angeeignet, übermalt und weitergezeichnet wurden und die er dann malerisch zu einer Bildcollage neu zusammensetzt. 

Dieter Glasmacher: Die Kamera liebt dich, 2002, Mischtechnik auf Holz, 150 x 200 cm

Selbst eine Schautafel zum emotionalen Mienenspiel, die Angst, Zorn, Abscheu, Trauer, Erstaunen und Freude anhand eines männlichen Gesichts zeigt, gehört zum Ausgangsmaterial des Künstlers, wie das Gemälde „Ich habe Deutschland gerettet“ zeigt. Nur ist dieses Material eben nicht wie bei einer Collage mit der Schere ausgeschnitten und aufgeklebt, sondern malerisch wiedergegeben und collageartig in den Bildteppich des Gemäldes eingefügt. Dort erscheinen diese Bildelemente wie auf Aby Warburgs Bildtafeln assoziativ und unkommentiert, jedoch angereichert durch die schon besprochenen Wortfetzen und Slogans. Die künstlerische Technik der Collage oder im dreidimensionalen Bereich der Assemblage ist Glasmacher jedoch nicht fremd, wie seine Werkgruppe der über viele Jahre entstandenen Wände der „Lenzenhütte“ zeigt, die ausführlich im Katalog der Galerie Herold von 2006 beschrieben worden ist. 

Glasmacher arbeitet (wie die Dadaisten) assoziativ und setzt auf die Assoziationsfähigkeit des Betrachters. Was er an populärem Bildmaterial gesehen und weiterverwertet hat - bei den jungen Leuten heutzutage wären das Bilder, images und pics - haben auch andere gesehen, gespeichert, und dann Geschichten hinzu gesponnen. Die Geschichten seiner Bildgewebe sind nicht eindeutig identifizierbar. Vielmehr wird jeder Betrachter aus seinem Erfahrungs- und Gehirnspeicherplatz Neues kombinieren, Zusammenhängen nachspüren, sich auf falsche Fährten führen lassen und assoziativ neue Geschichten erfinden. Glasmachers Arbeiten sind interaktiv, ohne dass der Betrachter zu etwas gezwungen wird. Jedoch wird er veranlasst mitzumachen. Die Betrachtung von Glasmachers Kunstwerken wird niemals enden, denn so viele Betrachter es gibt, so viele Arten der inhaltlichen Betrachtung wird es geben. Wollen Sie, meine Damen und Herren, ein Kunstwerk, dass sie niemals kalt lässt, dass Sie immer zum kreativen Mitspinnen auffordert,  das niemals zur reinen Wanddekoration wird, das aber im Sinne von Kurt Schwitters eine „leicht fassliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für jedermann“ bietet? Bei Glasmacher werden Sie fündig.

Die Anfänge der Malerei von Dieter Glasmacher lagen jedoch natürlich nicht bei Dada, sondern bei der zeitgenössischen Malerei seiner Zeit. Er selbst sagte anlässlich einer Ausstellung 2009: „Am Anfang des Studiums war ich fasziniert von Art Brut. Diese Kunst ist einfach und direkt. Mich interessiert die Einfachheit des Auftrags, dass die Figur teilweise nicht modelliert ist, dass es keine Perspektive gibt, dass alles wie hochgeklappt, geschrieben ist, wie auf eine Wand.“ Glasmacher studierte nach einer vorangegangenen Ausbildung als Patroneur und Musterzeichner von 1963 bis 1968 an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg bei Hans Thiemann und Klaus Bendixen. Art Brut ist der von dem französischen Maler Jean Dubuffet geprägte Begriff für die Kunst von Kindern, Laien und von geistig und psychisch Kranken, die im englisch-amerikanischen Sprachraum auch als Outsider-Kunst bekannt ist. Obwohl Dubuffet bereits 1947 eine Sammlung dieser Kunst anlegte und diese bald darauf in einer Dauerausstellung präsentierte, wurde sie erst sehr viel später einer breiten Öffentlichkeit bekannt. 1975 schenkte er seine Sammlung der Stadt Lausanne, wo sie seitdem in einem faszinierenden Museum zu sehen ist. Die Zeitschrift „Kunstforum international“ widmete erst 1979 anlässlich einer Ausstellung des British Arts Council ein Heft mit der ersten deutschsprachigen Dokumentation zu diesem Thema. Glasmachers Kenntnis des Art Brut ist für die Mitte der Sechzigerjahre als wirklich sehr früh anzusetzen, sicher vermittelt durch die ebenso intensive Kenntnis der Malerei von Jean Dubuffet. Dieser poetisierte in seiner Malerei das Banale, das einem an jeder Ecke begegnet, in Gestalt der Kritzeleien von Kindern auf der Straße und an Hauswänden, in Gestalt unbehauener Steine, verkrusteter oder verschlammter Erde. Einige seiner figürlichen Erfindungen scheinen bei Glasmacher wiederzukehren. 

Dieter Glasmacher: Wremer Tiergrab, 1994, Acryl und Pigmente auf Holz, 120 x 120 cm

Es gibt aber auch andere Ursprünge für Glasmachers Kunst. Die naiv anverwandelten, ebenfalls der Kinderzeichnung entstammenden Figuren der Gruppe COBRA wären zu nennen, die expressive Farbigkeit von Willem de Kooning, die pictogrammartig gestalteten Figuren von Philip Guston. Wenn Glasmacher afrikanische Motive und Porträts in der Technik des Aquarells festhält, meinen wir sogar Anklänge an Emil Nolde zu sehen. Wenn er in glühender Farbigkeit und präsenter Materialität die abstrakten Hintergründe seiner großen Gemälde bearbeitet, sind wir beim Informel, bei Tapies und Schumacher. Wenn er mit feinem Gespür für einen Weg zwischen Abstraktion und Figürlichem in diese Hintergründe hinein kritzelt, Formen und Linien verfolgt, bei Cy Twombly. Anders als mein Kollege Matthias Harder, der den ansonsten wunderbar prägnanten und aufschlussreichen Artikel in Herolds Katalog von 2006 geschrieben hat, sehe ich in den verschiedenen Stilstufen  und Techniken bei Glasmacher keine ironische Reaktion auf überwundene kunsthistorische Stile. Es sind vielmehr jene zeitgenössischen Stilrichtungen, die Glasmachers Kunst seit seiner Studienzeit, seit den Sechzigerjahren prägten, denen er sich nicht anschloss, sondern die er für seine Kunst verwertete und in ihrer Zusammenschau neu interpretierte. Vor ihrem Hintergrund entstand bis heute ein in sich geschlossenes und faszinierendes Werk, aus dem wir heute in dieser Ausstellung alte und neue Arbeiten sehen. Neben allen sprachlichen und kabarettistischen Einlagen sind Glasmachers Bilder immer noch reine Malerei. Sie bestechen durch das Gleichgewicht an raffinierter Technik, abstraktem Bildgrund und dem Reichtum an neu erfundenen Figuren, wobei jede Farbe und jedes Bildelement seinen notwendigen Platz hat.

Dieter Glasmacher: Dotzi, 1992, Acryl auf Leinwand, 100 x 90 cm

Dieter Glasmacher: Barba, 2001, Acryl auf Papier, 60cm x 45 cm

Ein ironischer Reflex auf unsere Welt ist jedoch das Figurenpersonal, das seine Bilder gleichmäßig bevölkert. Das sind Krankenschwestern mit Rotkreuzkäppi, barbusige Damen und gelegentlich eine Mischung aus beiden, Mickymäuse, mal ein naiver Mantelträger, Clowns, Sonnengesichter, Kopffüßler, wie wir sie von Kinderzeichnungen kennen, an Dubuffet erinnernde Ganzfiguren ohne Arme, Toten- und Gasmaskenköpfe, Hagere und Dicke, kleine weiße und gelbe Gespenster, ein Ladyboy mit beiderlei primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, Pärchen, die verschämt hinter Aquarell-Lasuren und nicht immer eindeutig aneinander rummachen, und natürlich Tiere: Hunde, Stiere, Hasen, die nicht immer nur Dürerscher sondern auch Beuysscher Herkunft sein können („Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“) oder die einfach auch nur Hasen sein dürfen. Sie alle führt Glasmacher uns auch in plastischer Form als Skulpturen vor. Sie sind genügend abstrahiert, dass jeder sich in ihnen - oder besser: dass jeder andere in ihnen wiedererkennen kann - und sie sind genügend konkret, um von uns als populäres Bildmaterial wiedererkannt zu werden, das für die Ausgestaltung von Geschichten und als Repräsentanz eines gesellschaftlichen Panoptikums dienen kann. 

Dieter Glasmacher: Der ewige Augenblick, 2010, Acryl auf Leinwand, 160cm x 120 cm

Dieter Glasmacher: Geld auf Zuruf, 2004, Acryl auf Leinwand, 50 x 40 cm

Dieses Figurenpersonal steht nicht nur im Gleichgewicht, sondern in enger Aktion zu den sprachlichen Slogans, Worthülsen und Modewörtern. Das passt nicht und gehört nicht zusammen: ein weißes Entengesicht und die Überschrift „Der ewige Augenblick“, Hase und Clown mit dem Slogan „Schlaue Biene“, eine nackte rote Dame mit dem Titel „Geld auf Zuruf“, ein grinsender Clown mit der Aufforderung aus einem Werbeprospekt „Such’s Schnäppchen“ (sozusagen ein Schelm, wer Böses dabei denkt), ein nackter Mann mit deutlich sichtbarem Penis und dem Krankheitsbild „Unruhige Hände“. Das ist spontan, assoziativ oder beabsichtigt und doch nicht im Übermaß eingesetzt, so dass jeder Betrachter seine eigene Interpretation finden muss und sich dabei mit seinen eigenen Assoziationen und Obsessionen selbst entlarvt. Nicht jede Form, nicht jedes rote Kreuz, das in eine Bildecke oder unter eine Barbusige rutscht, muss allerdings auch interpretiert werden. Häufig steht es auch dort, weil die Komposition und das Gleichgewicht der Farbigkeit es erfordern. Schließlich sind Glasmachers Bilder nicht Kabarett, sondern reine Malerei. Ihre Betrachtung erfordert jedoch, und das ist das Besondere an seiner Kunst, den Einsatz beider Gehirnhälften, der linken, sprachverarbeitenden ebenso wie der rechten, bildverarbeitenden.

Dieter Glasmacher: Such's Schnäppchen, 1998, Acryl auf Leinwand, 50 x 40 cm

Dieter Glasmacher: Unruhige Hände, 2010, Acryl auf Leinwand, 160 x 120 cm

Dieter Glasmacher wurde 1940 in Krefeld-Uerdingen geboren. 1963 siedelte er zum Studium nach Hamburg über und erhielt bereits elf Jahre nach der Beendigung seines Studiums eine der traditionsreichsten Auszeichnungen der Freien und Hansestadt Hamburg, den Edwin-Scharff-Preis. Früh beschäftigte er sich auch mit anderen Formen der Populärkultur: 1970 begann er mit der Heintje-Forschung, einer Spurensicherung. Im Jahr darauf drehte er zu diesem Thema für NDR III einen Film. 1972 zeigte er auf den Filmfestspielen in Oberhausen den zusammen mit Kurt Rosenthal produzierten Trickfilm „Maria Martinez Lopez“. Seine erste mehrmonatige Studienreise durch Westafrika unternahm er 1977, die zweite 1980 mit Adam Jankowski. 1980 bis 1995 war er Professor an der Fachhochschule für Grafik-Design in Düsseldorf, 1995 bis 2003 an der Hochschule für angewandte Wissenschaften im Fachbereich Gestaltung an der Armgardtstraße.

Sein Denken und seine Kunst sind großstädtisch und weltläufig; sein Lebensmittelpunkt ist auf dem Land in Neulandermoor. Dass er diesen Gegensatz selbst als scharfen Schnitt und zugleich als Bereicherung empfindet, sieht man in einem zweieinhalbminütigen Filmporträt, das im Internet bei youtube zu finden ist und das ich Ihnen, meine Damen und Herren, dringend ans Herz legen möchte. In scharfen Schnitten sehen wir den Künstler bei der Arbeit und den Blick auf goldgelbe Kornfelder, den Arbeitsvorgang am auf dem Boden liegenden Bild, so wie Jackson Pollock seine Drippings schuf, und Kühe auf der Weide, die Übertragung von Aquarellstudien auf die Leinwand an der Staffelei und den Misthaufen beim Bauern gegenüber. Glasmacher bekennt: „Ich stehe auf afrikanische Großstadtmusik“, die im Hintergrund läuft. Am sympathischsten aber sind seine abschließenden Worte: „Die wilden Jahre sind vorbei. Aber die richtigen wilden kommen noch. Die Erkenntnis heißt: Nichts ist vorbei.“ 

Dieter Glasmacher: Rotkreuzträgerin, 2014, Ton gebrannt, glasiert, Höhe 26 cm

Lieber Herr Glasmacher, wir freuen uns darauf. Ich danke Ihnen und Rainer Herold für die Einladung und das große Vergnügen, dass ich mich mit Ihrer Kunst beschäftigen durfte. Ihnen allen, meine Damen und Herren, wünsche ich ein gesundes, erfolgreiches und mit Kunst erfülltes gutes Neues Jahr. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.